Immer mehr Menschen leiden unter Angststörungen
- Nadine Greve
- 27. Mai
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 16. Juni
Eine Angststörung kennt viele Gesichter. Zu den bekanntesten zählen die soziale Phobie, die generalisierte Angststörung und die Panikstörung. Seit 2013 verzeichnen die deutschen Krankenkassen einen beängstigenden Anstieg dieses Krankheitsbildes.

Im Jahr 2022 meldete die IKK classic einen Anstieg von 77 Prozent gegenüber dem Vorjahr bei dem Krankheitsbild »Panikstörung«. Insgesamt wurde in dem Jahr bei 201.516 Mitgliedern eine Angststörung diagnostiziert. Davon waren 65,1 Prozent der Betroffenen weiblich und 30,9 Prozent männlich. Insgesamt stieg die Zahl der Angststörungen bei der IKK classic zwischen 2013 und 2022 bei den Frauen um 30,9 und bei den Männern sogar um 48,8 Prozent. Vor allem junge Menschen zwischen 15 und 29 Jahren sind betroffen. Sie leiden häufig unter einer sozialen Phobie oder Panikstörung. Bei ihnen hat sich die Zahl in den vergangenen zehn Jahren mit einem Anstieg von 114 Prozent mehr als verdoppelt. Betrachtet man nur die Frauen, ist die Zahl der diagnostizierten Angststörungen sogar um 133 Prozent gestiegen. Tendenz in allen Fällen weiter steigend. Die Dunkelziffer für das Krankheitsbild der Angststörung dürfte, wie bei allen anderen psychischen Erkrankungen, um ein Vielfaches höher liegen. Oftmals wissen die Menschen gar nicht, was sie quält, oder sie verleugnen es, weil eine Angststörung immer etwas mit Scham zu tun hat und in den Köpfen der Gesellschaft immer noch als Zeichen von Schwäche angesehen wird - und nicht als eine psychische Krankheit.
Wo liegen die Ursachen?
Zum einen ganz ohne Zweifel in den sozialen Belastungen. Täglich werden wir mit einer nicht angeforderten Flut an Informationen und Nachrichten, die oftmals bewusst Angst und Schrecken verbreiten, regelrecht überschwemmt . Ob durch die Vielzahl der sozialen Netzwerke oder alle die anderen medialen Kanäle. Unser Gehirn kann mit so vielen Angst- und Horrorszenarien nicht gut umgehen - es ist schlichtweg überfordet. Ein weiterer Grund für den dramatischen Anstieg von Angststörungen ist der in Schule und Beruf gestiegene Leistungsdruck. Besonders Berufstätige leiden seit der Corona-Pandemie unter personellen Engpässen durch langfristige Erkrankungen von Kollegen und Kolleginnen, von Stellenabbau aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage in Deutschland und dadurch entstandener Mehrarbeit, die niemand dauerhaft leisten kann.
Doch auch individuelle Faktoren spielen eine wichtige Rolle. Negative Erfahrungen in der Kindheit, genetische Veranlagungen oder private Probleme, wie Arbeitslosigkeit, Tod eines nahestehenden Menschens, Schulden, Krankheit oder die Angst vor einer ungewissen Zukunft können eine Rolle spielen. Wichtig dabei ist, zu unterscheiden, was die Ursache (also der Grund) und was der Auslöser für die Angststörung ist. Dies spielt im Behandlungsprozess eine, wenn nicht die, entscheidende Rolle, wird aber von den allermeisten Ärzten und Therapeuten überhaupt nicht thematisiert.
Leben mit einer Angststörung
Ein Leben mit einer Angststörung schränkt den Alltag der Betroffenen meist erheblich ein. Wenn sie noch in der Lage sind, ihren schulischen oder beruflichen Verpflichtungen nachzukommen, dann nur unter extremer körperlicher und seelischer Belastung. Angstpatienten können sich nur schwer konzentrieren, verspüren eine dauerhafte Anspannung und haben Schwierigkeiten mit ihren Mitmenschen in Kontakt zu treten. Hinzu kommt, dass sie in der Schule und bei der Arbeit oftmals gemobbt werden, da sie für die anderen leichte Opfer sind, an denen man seinen eigenen Frust ablassen kann. Typische körperliche Anzeichen einer Angsterkrankung sind in erster Linie dauerhaft angstbesetzte Gedanken, eine dauerhafte Anspannung, als befinde man sich in einer permantenten Bedrohungslage. Dies laugt Körper, Geist und Seele dermaßen aus, dass die Betroffenen chronisch müde beziehungsweise erschöpft sind. Da ihre gesamte Muskulatur durch die andauernde Angst ständig unter Anspannung steht, kommt es häufig zu anhaltenden Kopf-, Nacken- und Muskelschmerzen. Ferner leiden Betroffene unter wiederkehrenden Magen-Darm-Beschwerden, erhöhter Reizbarkeit und innerer Unruhe (Rastlosigkeit/Nervosität).
Ein normales Leben, wie es die meisten von uns kennen, ist für Angstpatienten kaum mehr möglich. Sie befinden sich in einem »Kreislauf der Angst«, der mit der Zeit immer stärker wird und das Lebensumfeld der Betroffenen immer weiter einschränkt - bis hin zur totalen Isolation. Für nicht Angst-Patienten versuche ich mal zu beschreiben, was in einer Person mit Angststörung vorgeht. Durch eine seiner fünf Sinne (Sehen, Hören, Riechen, Fühlen und Schmecken) nimmt der Angstpatient die Angst wahr. Im gleichen Moment geht eine Meldung über eine mögliche Bedrohung an die Amgydala (die Angst-Zentrale in unserem Gehirn). Diese leitet das Signal weiter an den Körper, der sofort in den Kampf- oder Fluchtmodus schaltet. Das ganze Szenario spielt sich innerhalb einer Sekunde ab. Wer schon einmal in einer wirklichen Bedrohungslage war, erinnert sich vielleicht, wie sein Körper reagiert hat. Für alle anderen ist es vergleichbar mit einem Moment des Erschreckens. Der Körper zuckt zusammen, das Adrenalin schießt durch die Adern, alle Sinne sind hellwach und hochempfänglich, die gesamte Körpermuskulatur ist angespannt, das Herz beginnt schnell und laut zu klopfen und die Beine fangen an zu zittern. Erst wenn unsere Großhirnrinde die aktuelle Situation mit ihren bisherigen Erfahrungen abgleicht und feststellt, dass es sich um keine wirkliche Bedrohungslage handelt, meldet sie dem Körper »Fehlalarm« und dieser fährt die körplichen Symptome auf Normalmodus zurück. Bei einem Angstpatienten ist diese überlebenswichtige Funktion des Körpers außer Kontrolle geraten. Leider wissen die meisten Betroffenen nicht, dass sie selbst sich ihr »Gefängnis der Angst« durch die eigenen unkontrollierten Gedanken geschaffen haben. Ein weiteres Problem an der Sache ist, dass sich der »Kreislauf der Angst«, in dem der Angstpatient gefangen ist, bei jeder Angstattacke verstärkt. Bedeutet, die betroffene Person immer häufiger Angst verspürt und irgendwann nahezu jede Situation mit Angst assoziiert. Zeitgleich verstärken sich die körperlichen Symptome. Der Umgang mit Angstpatienten ist für Außenstehende schwierig, da sie sich nicht in die Lage des Erkrankten hineinversetzen können. Dieses Unverständnis führt in vielen Fällen zu einem sozialen Rückzug der Betroffenen, der nicht selten in der Isolation endet.
Seit nunmehr neun Jahren arbeite ich als Psychologischer Coach. Nie zuvor hatte ich so viele jüngere Klientinnen und Klienten (20-40 Jahren), die seit mehr als einem Jahr ihre Wohnung nicht mehr verlassen haben, weil ihre Angststörung es nicht zulässt. Diese jungen Menschen, die eigentlich mitten im Leben stehen sollten, sind auf Familie und Freunde angewiesen, die für sie einkaufen gehen oder sie zu wichtigen Terminen begleiten. Doch selbst in Begleitung schaffen es einige von ihnen nicht mehr vor die Tür. Sobald sie ihre Sicherheitszone verlassen sollen, werden sie von schlimmen Panikattacken, die für Betroffene oft lebensbedrohlich wirken, heimgesucht. So eine Panikattacke kann zwischen wenigen Minuten und mehreren Stunden andauern. Wobei sie bei längerem Andauern eher in Wellenform daherkommt, sprich, die Panik samt lebensbedrohlicher Symptome ebbt zeitwweise ab und nimmt wieder zu. Das die Angstpatienten dies mit ihren unbewussten Gedanken steuern, ist ihnen nicht klar.

Corona und die Angst
Frage ich meine Angstpatienten, seit wann sie unter ihrer Angststörung leiden, berichten mir alle, dass sie während oder kurz nach der Corona-Pandemie erkrankt seien. Das entspricht genau dem, was wissenschaftliche Studien herausgefunden haben. Die Menschen sind seit der Corona-Pandemie wesentlicher ängstlicher geworden. Eine Angststörung entsteht, genau wie eine Depression und ein Burnout, nicht von jetzt (Belastung) auf gleich (Störung). Sie wachsen leise im Dunkeln heran. Bei manchen braucht es Wochen, bei anderen dauert es Monate oder Jahre, bis die Angststörung aus dem Dunkel ans Licht kommt. Die Krankheit bricht meist während einer stark belastenden Situation auf. Dies kann durch einen Unfall, durch den Verlust des Jobs, durch den Tod eines nahestehenden Menschens, durch das Ende einer Beziehung, durch den finanzielle Ruin oder auch aufgrund dauerhaft angstmachender Nachrichten, wie zu Corona-Zeiten, geschehen. Auch die seit über einem Jahr anhaltende Panikmache durch Politik und Medien bezüglich eines drohenden Kriegs mit Russland, kann Auslöser für eine Angststörung sein. In selteneren Fällen sind sie aber auch die Ursache. Die Ursache, warum jemand an einer Angststörung erkrankt, liegt meist in der frühen Kindheit begraben. Erst, wenn der wahre Grund gefunden ist, lässt sich die Angststörung rasch und dauerhaft heilen.
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